von Werner Müller, Juni 2022
https://www.prof-mueller.net/ukraine/krim/
Die FAZ hat wahrscheinlich vergessen, im Zuge der Kriegspropaganda einen interessanten Text aus dem April 2014 zu löschen. Um dieses Werk für die Öffentlichkeit zu erhalten, habe ich es hier
zitiert und kommentiert.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-krim-und-das-voelkerrecht-kuehle-ironie-der-geschichte-12884464.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2:
von Reinhard Merkel, aktualisiert am 08.04.2014-16:02
Russland hat völkerrechtliche Ansprüche der Ukraine verletzt. Aber man sollte die Kirche im Dorf lassen. Wer am lautesten nach Sanktionen schreit, lenkt nur ab von der eigenen Blamage.
Hat Russland die Krim annektiert? Nein. Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein. Waren sie also rechtens? Nein; sie verstießen gegen die
ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts). Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein; die ukrainische
Verfassung bindet Russland nicht. War dessen Handeln also völkerrechtsgemäß? Nein; jedenfalls seine militärische Präsenz auf der Krim außerhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig.
Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als
eine maskierte Annexion? Nein.
Kommentar:
In den USA und Großbritannien war man genau darüber informiert, dass die Bewohner der Halbinsel Krim Teil der Russischen Föderation werden wollen. Das beweisen Dokumente des britischen
Außenministeriums, deren Geheimhaltung aufgehoben und die im Nationalarchiv Londons veröffentlicht wurden. (https://www.unsere-zeitung.at/2019/03/27/die-krim-wollte-schon-frueher-zu-russland/)
Die ganze Empörung war also künstlich.
Die offiziellen Bekundungen westlicher Regierungen lauten anders. Glaubt man ihnen, dann hat Russland auf der Krim völkerrechtlich das Gleiche getan wie Saddam Hussein 1991 in Kuweit: fremdes
Staatsgebiet militärisch konfisziert und dem eigenen zugeschlagen. Die Annexion damals, man erinnert sich, hat ihrem Urheber einen massiven Militärschlag zugezogen. Wäre ein solcher Schlag, von
seiner politischen Unmöglichkeit abgesehen, heute auch gegen Russland gerechtfertigt? Gewiss nicht. Aber das ist nicht der einzige Grund, den regierungsamtlichen Vokativen von Berlin bis
Washington zu misstrauen.
Kommentar:
Die USA haben keinen eigenen Militärschlag gegen Russland vorbereitet, sondern die Ukraine nach 2014 aufgerüstet um ihr eine gewaltsamen Revision der Geschichte zu ermöglichen. Die
Kräfteverhältnisse waren anders als beim Irak. Ansonsten hätten die USA wohl keine Hemmungen gehabt.
„Annexion“ heißt im Völkerrecht die gewaltsame Aneignung von Land gegen den Willen des Staates, dem es zugehört, durch einen anderen Staat. Annexionen verletzen das zwischenstaatliche
Gewaltverbot, die Grundnorm der rechtlichen Weltordnung. Regelmäßig geschehen sie im Modus eines „bewaffneten Angriffs“, der schwersten Form zwischenstaatlicher Rechtsverletzungen. Dann lösen sie
nach Artikel 51 der UN-Charta Befugnisse zur militärischen Notwehr des Angegriffenen und zur Nothilfe seitens dritter Staaten aus - Erlaubnisse zum Krieg auch ohne Billigung durch den
Weltsicherheitsrat. Schon diese Überlegung sollte den freihändigen Umgang mit dem Prädikat „Annexion“ ein wenig disziplinieren. Freilich bietet dessen abstrakte Definition auch allerlei
irreführenden Deutungen Raum. Aus einer von ihnen scheint sich das völkerrechtliche Stigma ableiten zu lassen, das der Westen derzeit dem russischen Vorgehen aufdrückt und an dem er die eigene
Empörung beglaubigt.
Aber das ist Propaganda. Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas anderes: eine Sezession, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit, bestätigt von einem Referendum, das die Abspaltung
von der Ukraine billigte. Ihm folgte der Antrag auf Beitritt zur Russischen Föderation, den Moskau annahm. Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus, und zwar selbst dann,
wenn alle drei völkerrechtswidrig gewesen sein sollten. Der Unterschied zur Annexion, den sie markieren, ist ungefähr der zwischen Wegnehmen und Annehmen. Auch wenn ein Geber, hier die
De-facto-Regierung der Krim, rechtswidrig handelt, macht er den Annehmenden nicht zum Wegnehmer. Man mag ja die ganze Transaktion aus Rechtsgründen für nichtig halten. Das macht sie dennoch nicht
zur Annexion, zur räuberischen Landnahme mittels Gewalt, einem völkerrechtlichen Titel zum Krieg.
Kommentar:
Die Bevölkerung der Krim wehrte sich schon seit langem gegen die zwanghafte Zugehörigkeit zur Ukraine. Das führte am 20.1.1991 zu einem Referendum der Krimbevölkerung, das eine
Eigenstaatlichkeit forderte. Nach dem Referendum verabschiedete der Oberste Rat der Ukraine (das Parlament) das Gesetz „Über die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik
Krim innerhalb der Sowjetrepublik Ukraine». Im Anschluss daran wurde der Hinweis auf die Wiederherstellung der Autonomie in die Ukrainische Verfassung von 1978 aufgenommen. Im September 1991 nahm
der Oberste Rat der Krim die «Erklärung über die staatliche Souveränität» an. Die per Volksabstimmung gebilligte Verfassung der Krim von 1992 verlieh der Krim auch das Recht sich für eine
Wiedereingliederung an Rußland zu entscheiden. 1995 wurde diese Verfassung einseitig vom Präsidenten der Ukraine per Erlass aufgehoben - ein Bruch der Verfassung!
Aber war sie nichtig? Waren ihre drei Elemente - Referendum, Sezession, Beitrittserklärung - völkerrechtswidrig? Nein. Schon auf den ersten Blick ungereimt ist die von der amerikanischen
Regierung ausgegebene Behauptung, bereits das Referendum habe gegen das Völkerrecht verstoßen. Veranstaltet ein Teil der Bevölkerung eines Landes unter seinen Mitgliedern ein Plebiszit, so macht
ihn das nicht zum Völkerrechtssubjekt. Normen des allgemeinen Völkerrechts, etwa das Verbot, die territoriale Integrität von Staaten anzutasten, betreffen ihn nicht und können von ihm nicht
verletzt werden. Die Feststellung reicht über das Referendum auf der Krim hinaus. Auch die Sezessionserklärung selbst verletzt keine völkerrechtliche Norm und könnte dies gar nicht.
Sezessionskonflikte sind eine Angelegenheit innerstaatlichen, nicht internationalen Rechts. Diesen Status quo des Völkerrechts hat der Internationale Gerichtshof vor vier Jahren in seinem
Rechtsgutachten für die UN-Generalversammlung zur Sezession des Kosovo bestätigt.
Kommentar:
Gleiches Recht für Alle! Wenn der Kosovo unabhängig werden kann, dann auch die Krim, der Donbass, Transnistrien, Abchasien, Südossetien … . Es gibt keinen Grundsatz im Völkerrecht, dass alles
nach dem Willen der USA laufen muss.
Nun öffnet sich hier die Möglichkeit für allerlei sinistre Schachzüge im Streit um die passenden Rechtsbegriffe. Sowenig das Völkerrecht ein Verbot der Sezession kennt, so wenig akzeptiert es
umgekehrt ein Recht darauf. Es trifft dazu keine Regelung. Die Staaten haben ersichtlich kein Interesse an der positiven Setzung eines Rechtstitels, der die Beschädigung, ja Zerstörung ihrer
eigenen Territorien durch sezessionsgeneigte Minderheiten erlauben würde. Und da sie nicht nur die vom Völkerrecht Verpflichteten, sondern auch dessen Urheber sind, gibt es einen solchen Anspruch
eben nicht, von eng umschriebenen Ausnahmen abgesehen, die im Fall der Krim nicht einschlägig sind. Die Gemeinschaft der Staaten, so die saloppe Fußnote der Völkerrechtslehre, ist kein Club von
Selbstmördern.
Kommentar:
Dann soll wohl in der internationalen Politik das Recht des Stärkeren gelten, nicht die Stärke es Rechts. Aber viele Schwache sind gemeinsam stärker als wenige Starke. „Der Westen“
repräsentiert nur 16 % der Weltbevölkerung.
Daraus lässt sich im Propagandakrieg etwas machen. Die landläufige Feststellung, das Völkerrecht habe den Krim-Bewohnern kein Recht zur Sezession gewährt, ist ganz richtig. Aber der mitgelieferte
Schluss, also sei die Sezession völkerrechtswidrig gewesen, ist falsch. Seine irreführende Wirkung, auf die sich seine Urheber freilich verlassen können, bezieht er aus einer verfehlten Parallele
zum innerstaatlichen Recht. Dieses gewährleistet außerhalb seiner konkreten Verbote stets ein prinzipielles Freiheitsrecht. Es erlaubt, was es nicht ausdrücklich untersagt. Deshalb bedeutet in
seiner Sphäre die Feststellung, jemand habe ohne Erlaubnis gehandelt, stets zugleich das Verdikt, dieses Handeln sei rechtswidrig gewesen.
Kommentar:
Dieses hin-und-her ist unlogisch! Sezessionen sind nicht verboten, also sind sie erlaubt. Dass die Mächtigen sie verhindern wollen, steht auf einem anderen Blatt. Es geht auch innerstaatlich
nicht darum Recht zu haben, sondern Recht zu bekommen!
Die Logik eines solchen Entweder-oder gilt im Völkerrecht nicht. Es kennt Formen kollektiven Handelns, zu denen es sich neutral verhält. Die Sezession ist ein exemplarischer Fall. Ein allgemeines
Verbot ginge ins Leere, da dessen mögliche Adressaten dem Völkerrecht nicht unterworfen sind. Aber eine Erlaubnis dazu wird in etlichen internationalen Dokumenten seit Jahrzehnten verneint. Auch
als allgemeines Freiheitsrecht wäre sie völkerrechtlich nicht zu begründen.
Kommentar:
1919 wurde die Zerschlagung Österreich-Ungarns und die Abtretung Posen-Westpreußens an Polen (ohne Volksabstimmung) mit den Selbstbestimmungsrecht der Völker begründet. Das muss dann nach dem
Gleichbehandlungsgrundsatz des angelsächsischen Case-Law für alle Völker gelten. Also gibt es ein Recht auf Sezession! Das muss nur durchgesetzt werden.
Das dürfte sich der in Brüssel und in Washington verordneten Sprachregelung wie von selbst eingefügt haben. Kein Recht der Krim auf Sezession! Das Referendum ein Bruch des Völkerrechts und daher
null und nichtig! Der „Beitritt“ zu Russland nichts anderes als eine Annexion! Eine schöne Ableitung. Nur leider falsch.
Kommentar:
So ist es!
Aber die russische Militärpräsenz? Macht sie nicht die ganze Prozedur der Sezession zur Farce? Zum schieren Produkt einer Drohung mit Gewalt? Wäre es so, dann wären Ablauf und Ergebnis des
Referendums genauso wie die Erklärung der Unabhängigkeit allein den Drohenden zuzurechnen, auch wenn die Einheimischen mit guter Miene bei der bösen Inszenierung mitspielten. Die Rede von der
Annexion wäre dann richtig. So hat Stalin 1940 die baltischen Staaten annektiert. Nach ihrer Besetzung und der Zwangseinrichtung kommunistischer Marionettenparlamente ließ er deren Mitglieder in
Moskau um den Anschluss an die Sowjetunion ersuchen, den er freundlich gewährte. Ebendeshalb war ein knappes halbes Jahrhundert später die Ablösung der baltischen Staaten von der späten UdSSR
keine Sezession, sondern die Wiederherstellung einer Souveränität, die als Rechtstitel nie erloschen war. Wäre das nicht das passende Modell zur Deutung der Vorgänge auf der Krim?
Kommentar:
Ein Denkfehler! Das Völkerrecht fragt nicht nach der Legitimität der Regierungen. Folglich war die Zugehörigkeit der baltischen Staaten zur Sowjetunion völkerrechtlich unstrittig. Zum Ende
der Sowjetunion betrieben diese Staaten ihren Austritt, der sich mit der Auflösung der UdSSR erledigt hatte.
Nein. Die Zwangswirkung der russischen Militärpräsenz bezog sich weder auf die Erklärung der Unabhängigkeit noch auf das nachfolgende Referendum. Sie sicherte die Möglichkeit des Stattfindens
dieser Ereignisse; auf deren Ausgang nahm und hatte sie keinen Einfluss. Adressaten der Gewaltandrohung waren nicht die Bürger oder das Parlament der Krim, sondern die Soldaten der ukrainischen
Armee. Was so verhindert wurde, war ein militärisches Eingreifen des Zentralstaats zur Unterbindung der Sezession. Das ist der Grund, warum die russischen Streitkräfte die ukrainischen Kasernen
blockiert und nicht etwa die Abstimmungslokale überwacht haben. Natürlich wusste Putin, dass die von ihm gewünschten Resultate sicher waren und keiner erzwungenen Fälschung bedurften. Aber ob er
andernfalls sogar dazu bereit gewesen wäre, steht nicht zur Debatte. Bei aller Empörung über das russische Vorgehen ist auch hierzulande nicht ernsthaft bezweifelt worden, dass im Ergebnis des
Referendums der authentische Wille einer großen Mehrheit der Krim-Bevölkerung zum Ausdruck kam. Ob die amtlichen Ergebnisse im Einzelnen korrekt waren, ist dafür ohne Belang. Die wirklichen
Zahlen lagen jedenfalls weit über der Marke von fünfzig Prozent.
Kommentar:
Ich kenne die Krim und ihre Menschen aus eigenen Aufenthalten. Nur die türkische Minerheit war für den Verbleib in der Ukraine, und die hat die Abstimmung boykotiert. Ohne diese Stimmung
hätte sich Putin diesen Stress wahrscheinlich nicht angetan.
Gleichwohl war die russische Militärpräsenz völkerrechtswidrig. Auch wenn gerade sie einen blutigen Einsatz von Waffengewalt auf der Krim verhindert haben mag, verletzte sie das
zwischenstaatliche Interventionsverbot. Das macht die davon ermöglichte Sezession keineswegs nichtig. Aber es berechtigt andere Staaten zu Gegenmaßnahmen, zum Beispiel zu Sanktionen. Deren
Verhältnismäßigkeit hat sich allerdings an ihrem tatsächlichen Anlass zu bemessen und nicht an einem fingierten Schreckgespenst: an einer militärischen Nötigung auf fremdem Staatsgebiet also,
nicht aber einer gewaltsamen Annexion. Bei aller Überinstrumentierung der eigenen Empörung scheint man das in den westlichen Regierungen immerhin zu fühlen. Man warte nur das künftige
Sanktionsregime und vor allem dessen Dauer ab. Viel Geduld wird man dafür nicht brauchen. Und frage sich dann, ob eine solche Antwort auf einen echten gewaltsamen Landraub nicht federleicht
erschiene.
Kommentar:
Aus der Sicht Russlands war der Schutz der Sezession Notwehr. Weil die Krim-Verfassung von 1992 das Recht auf eine Volksabstimmung vorsah, wäre ihre Verhinderung durch das ukrainische Militär
der Rechtsbruch gewesen. Die Nötigung war also durch das Notwehrrecht gerechtfertigt. Das Recht auf Sanktionen ist ein anderes Thema, dass 2022 wohl neu bewertet werden sollte. Grundsätzlich gibt
es auch im internationlen Recht die Vertragsfreiheit. Jeder Staat kann selbst entscheiden, von wem es Produkte kaufen, und an wen es sie verkaufen will. Einer Rechtfertigung dafür bedarf es
nicht. Und natürlich darf auch Russland frei entscheien, sein Gas nur zum Weltmarktpreis und nur gegen Rubel zu verkaufen.
Noch eine weitere Völkerrechtsverletzung ist Russland vorzuhalten. Sowenig das allgemeine Völkerrecht Sezessionen verbietet, weil es deren Urheber nicht verpflichten kann, so unzweideutig
verlangt es von den anderen Staaten, die dadurch geschaffene Lage nicht oder jedenfalls nicht vor deren politischer Konsolidierung anzuerkennen. Zwei Tage nach dem Referendum, am 18. März, hat
Russland das Abkommen zum Beitritt der Krim unterzeichnet. Das dürfte die stärkste Form der Anerkennung eines Sezessionsgebiets als eines unabhängig gewordenen Staates sein. Zwar geht die Frage,
ob sich ein unabhängiger Staat einem anderen anschließt, den Rest der Welt so wenig an wie das Völkerrecht. Aber ob das Beitrittsgebiet nach einer vorherigen Sezession als ein solcher Staat
anerkannt werden darf, sehr wohl.
Zahllose Probleme, die damit zusammenhängen, sind in der Völkerrechtsdoktrin seit langem umstritten. Über bestimmte Grundlagen besteht aber weitgehend Einigkeit. Danach war die russische
Anerkennung der Krim als eines beitrittsfähigen unabhängigen Staates zwei Tage nach ihrer Abspaltung mehr als vorschnell. Sie verletzte, heißt das, den völkerrechtlichen Anspruch der Ukraine auf
Achtung ihrer territorialen Integrität. Auch das rechtfertigt internationale Gegenmaßnahmen.
Kommentar:
Dieser Völkerrechtsgrundsatz ist mir neu. Man kann Russland wohl wegen der schnellen Aufnahme der Krim Instinktlosigkeit vorwerfen. Andererseits hätte die Regierung der Krim Ansprüche auf die
russische Schwarzmeerflotte anmelden können, mit den auf den russischen U-Booten stationierten Atomraketen. Wäre dem Westen eine nicht-anerkannte Krim als Atommacht lieber gewesen?
Freilich müssen sich die empörten westlichen Staaten nun an ihre eigenen Nasen fassen. Vor sechs Jahren, am 17. Februar 2008, erklärte die provisorische Zivilverwaltung im Kosovo dessen
Unabhängigkeit vom serbischen Zentralstaat. Das verstieß, wiewohl der Internationale Gerichtshof das zwei Jahre später verneint hat, gegen einschlägiges spezielles Völkerrecht, nämlich die
Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats vom Juni 1999, die den Kosovo nach der Nato-Intervention unter die Hoheitsgewalt der Vereinten Nationen gestellt und zugleich die Unverletzlichkeit der
serbischen Grenzen garantiert hat. Einen Tag nach dieser Sezession haben England, Frankreich und die Vereinigten Staaten, drei Tage später hat Deutschland den Kosovo als unabhängigen Staat
anerkannt.
Kommentar:
Also konnte sich Russland auf den Gleichbehandlungsgrundsatz nach dem Case-Law berufen! Weil das Völkerrecht dem Angelsächsischen Recht und nicht dem Römischen Recht folgt, konnte es sich 6
Jahre später auf diesen Präzedenzfall als Rechtfertigung benutzen! Das war wohl nichts mit „völkerrechtswidrig“!
Auch das waren überhastete Akte der Anerkennung und damit völkerrechtswidrige Eingriffe in den Anspruch Serbiens auf Achtung seiner territorialen Integrität. Damals hat Russland den Westen scharf
kritisiert, heute spielt es das gleiche Spiel. Dass dabei die Rollen vertauscht sind, mag man als kühle Ironie einer Weltgeschichte verbuchen, die noch immer den Maximen der politischen Macht
weit eher folgt als den Normen des Völkerrechts.
Kommentar:
Also das Recht des Stärkeren!
Das ist bedauerlich, aber vorderhand nicht zu ändern. Und das wäre vielleicht ein Grund, die völkerrechtliche Kirche im politischen Dorf zu lassen und immerhin rhetorisch ein wenig abzurüsten.
Russland hat völkerrechtswidrig gehandelt, in mäßig dramatischem Modus und politisch keineswegs wie ein hasardierender Gangster. Der nun entstandene Zustand war für die Krim langfristig wohl
ohnehin unumgänglich. Und die Form, in der er nun herbeigeführt wurde, mag bei all ihrer Unerfreulichkeit gravierendere Konflikte vermieden haben. Annexionen zwischen Staaten sind dagegen
typischerweise Kriegsgründe.
Kommentar:
Das dürfte die wirkliche Absicht der USA gewesen sein. Unter dem ständig betrunkenen Präsidenten Jelzin war Russland ein Spielball ihrer Weltmachtmbitionen. Mit Putin kehrte Russland in den
Club der Weltmächte zurück. Dagegen sollte ein Stellvertreterkrieg vorbereitet werden. So wie Israel 1967 einem ägyptischen Angriff zuvorkommen durfte, durfte auch Russland einem ukrainischen
Angriff auf die Donbass-Republiken zuvorkommen, die es zuvor noch anerkennen musste.
Wer heute mit Blick auf die Krim so redet, verwirrt nicht nur die völkerrechtlichen Grundbegriffe, sondern mobilisiert deren Legitimationspotential auf eine gefährliche Weise. Wenn nicht alle
Zeichen trügen, ist der Westen soeben dabei, sich für eine verfehlte Außenpolitik die Quittung einer welthistorischen Blamage zuzuziehen. Er sollte deren Kollateralschäden nicht allzu weit in die
Sphäre des Völkerrechts ausdehnen.
Kommentar:
„Heute“ war im April 2014. Der Kollateralschaden 2022 ist die Entstehung eines neuen Kalten Krieges mit einer Konfrontation zwischen den USA und ihren Vasallen einerseits, und China +
Russland andererseits. Die Versuche der USA, Russland international zu isolieren, sind gescheitert. In Asien, Afrika und Lateinamerika finden die USA kaum Unterstützer; im Gegensatz zu Russland
und China. Es bildet sich ein West-Rest-Gegensatz heraus, also eine Konfrontation des Westens gegen den Rest der Welt. Einen Völkerrechtsgrundsatz, „die USA haben immer Recht“ wird der Rest der
Welt nicht akzeptieren. Am Ende wird dieser Rest der Welt mit 84 % der Menschen wohl stärker sein als der Westen mit 16 %. Nach dem Völkerrecht oder den Menschenrechten wird am Ende niemand mehr
fragen.
von Werner Müller, Februar 2022
https://www.prof-mueller.net/ukraine/krim/
Bis Ende Februar 2022 gab es in den Mainstreammedien fast nur das Corona-Thema, das alle andere Themen überlagerte. Eine kurze Störung erfuhr die gleichgeschaltete Propaganda, als der Inspekteur
der deutschen Marine, Admiral Schönbach, am 23.01.22 zurücktreten musste, weil er eine politisch nicht genehme Wahrheit aussprach.
(https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/admiral-schoenbach-ruecktritt-103.html)
Nicht nur zu Corona, auch zur politischen Rolle Russlands gibt es nur in den Neuen Medien auch andere Meinungen, zu denen ich nur ein paar Beispiele nennen will:
https://www.nachdenkseiten.de/?p=80304
https://www.nachdenkseiten.de/?p=80108#h01
https://www.freethewords.com/2022/01/24/gysi-krieg-gegen-russland-kann-zur-vernichtung-der-menschheit-fuehren/
https://niedersachsen-aktuell.com/admiral-schoenbach-sagte-wahres-zur-falschen-zeit/
Ich selbst habe persönliche Kontakte auf die Krim, die ich schon siebenmal besucht habe, und ich war auch schon viermal in Kiew. Ich möchte mich nicht als Russland-Experte bezeichnen, traue mir
aber eine eigenständige Einschätzung abseits der Regierungsmeinung zu.
Nach einer Volksabstimmung wurde die von Stalin am 30.06.1945 aufgelöste Autonome Sozialistische Sowjetrepublik Krim am 12. Februar 1991 durch den Obersten Sowjet der Ukrainischen SSR
wiedererrichtet. Bis 1954 war die Krim Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Weil es aber nur eine Landverbindung zur Ukraine gab und die ganze Infrastruktur deshalb nur
aus der Ukraine aufgebaut werden konnte, wurde die Halbinsel unter Chruschtschow der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik angegliedert, aus verwaltungstechnischer Sicht damals eine
vernünftige Entscheidung. Es gab aber keine Volksabstimmung über diese Veränderung des völkerrechtlichen Status. Weil die Unionsrepubliken nach der Verfassung der UdSSR eigenständige Staaten
waren und die Union nur ein Staatenbund, hätte es eine Volksabstimmung geben müssen. Diese Feinheit hielt die damalige Regierung der Sowjetunion aber für nicht so wichtig.
Nach der Auflösung der Sowjetunion war der Status der Krim kurz ein Thema. Das wurde aber von dem der Zukunft der sowjetischen Schwarzmeerflotte und des Stützpunktes Sewastopol überlagert, wo auf
U-Booten mit Sicherheit auch Atomwaffen stationiert waren und wohl noch sind. Eine international nicht anerkannte unabhängige Krim, die Ansprüche auf die Flotte und die Atomwaffen erheben können,
war damals dem russischen Präsidenten Jelzin zu riskant. Wohl deshalb hat er die Unabhängigkeitsbestrebungen nicht unterstützt. Es kam zu einer Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine über
die Aufteilung der Schwarzmeerflotte, einen Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen, Stützpunktrechte Russlands in Sewastopol und den Status der Krim. Die ASSR Krim wurde in „Autonome Republik Krim“
umbenannt und die Stadt Sewastopol mit einem Sonderstatus herausgelöst. Russisch blieb Amtssprache.
Auf der Krim leben kaum Ukrainer. Neben der russischen Bevölkerung gibt es noch eine türkische Minderheit, die auf 12 % geschätzt wird. Einen beständigen ukrainischen Staat hat es vor 1991 nicht
gegeben. Vor dem ersten Weltkrieg gehörte die Westukraine als Ostgalizien zu Österreich-Ungarn. Nur in diesem Gebiet wird im Alltag von den Menschen mehrheitlich Ukrainisch gesprochen. Selbst in
der Hauptstadt Kiew habe ich zu ca. 80 % nur Russisch gehört. Verwirrend war für mich, dass Straßennamen und U-Bahn-Stationen offiziell ukrainisch bezeichnet sind und die Menschen die russische
Übersetzung verwenden. So wurde mir z.B. die U-Bahn-Station лесная (Lesnaja = Wald) genannt, und den offiziellen Namen лісова (Lisowa) konnte ich nicht zuordnen. Die Aussage, Ukrainisch sei nur
Polnisch mit russischer Aussprache und kyrillischen Buchstaben ist natürlich übertrieben, aber es gibt bei vielen Worten eine größere Nähe zwischen Ukrainisch und Polnisch als zwischen Ukrainisch
und Russisch.
Beispiele:
Danke russisch: Спасибо – Spasiba / ukrainisch: Дякую – Dyakuyu / polnisch: Dziękuję
Bitte russisch: Пожалуйста - Pozhalsta / ukrainisch: просимо - prosymo / polnisch: Proszę
gute Nacht russisch: спокойной ночи - spokojnoj notschi /
ukrainisch: Надобраніч - Nadobranitsch / polnisch:
Dobranoc
Wegen der politischen Nähe zwischen West- und Ostgalizien (Südpolen und Westukraine) in der k.u.k-Monarchie und der daraus resultierenden Nähe zwischen der polnischen und der ukrainischen Sprache
ist die Amtssprache in der Ostukraine für die Menschen, auch für die ethnischen Ukrainer, praktisch eine Fremdsprache.
Schon vor 25 Jahren gab es auf der Krim starke anti-ukrainische Ressentiments. Der neue ukrainische Staat wurde als korrupt wahrgenommen. Die Stimmung wurde verstärkt, als spätere ukrainische
Regierungen den Vielvölkerstaat (im Westen gibt es auch ungarische, slowakische und rumänische Minderheiten) in einen ukrainischen Nationalstaat umwandelten. Nach dem Umsturz vom Februar 2014 mit
der Machtübernahme westukrainischer Nationalisten und der Flucht des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch erreichte der Unmut in der Bevölkerung der Krim den Höhepunkt. Die
Unabhängigkeitserklärung des Parlaments der Autonomen Republik Krim wurde von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung unterstützt und am 16. März 2014 trotz des Boykotts der türkischen Minderheit
bei einer hohen Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit bestätigt. Auch der anschließende Beitritt der unabhängigen Krim zur Russischen Föderation entsprach dem Willen der Menschen auf der
Krim.
Es handelte sich hier um keine völkerrechtswidrige Annexion, sondern eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach Art. 1 Abs.1 des UN-Zivilpaktes. (Alle Völker haben das Recht auf
Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.) In Anwendung der
Kosovo-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs vom 22.07.2010 verletzt eine einseitige Unabhängigkeitserklärung eines Teilstaates in keiner Weise das internationale Recht. Das
internationale Recht kennt kein Verbot einer Deklaration der Unabhängigkeit. Die Behörden der Krim waren sogar nach Art. 138 Abs. 2 der ukrainischen Verfassung „zur Organisation und Durchführung
lokaler Referenden“ berechtigt. An der Unabhängigkeitserklärung der Krim war also nichts illegal.
Die Mentalität der Russen mit einem hohen Stellenwert von Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft ist auch den Westeuropäern näher als der Individualismus und die jeder-gegen-jeden-Mentalität der
US-Bürger. Für die USA ist Europa ein geopolitischer Spielball, für die Europäer ist es die Heimat! Der Frieden in Europa kann nur mit Russland organisiert werden, nicht gegen Russland. Die
Ausgrenzung Russlands ist selbst aus der Perspektive der USA vor dem Hintergrund der Zuspitzung der Rivalität mit China ein schwerer Fehler. Zwischen China, Russland und Iran entsteht derzeit ein
Anti-USA-Bündnis.
Der russische Präsident Putin mag menschlich ein schwieriger Verhandlungspartner sein, der ehemalige US-Präsident Trump war es wohl auch. Das Schicksal der Völker kann aber nicht von persönlichen
Sympathien und Antipathien abhängig gemacht werden. Aus der europäischen Perspektive gibt es zu einem friedlichen Miteinander aller europäischen Länder einschließlich Russlands keine vernünftige
Alternative. Ein neuer Kalter Krieg nützt niemandem. Eine NATO, die Russland provoziert, ist keine Sicherheitsgarantie, sondern ein Sicherheitsrisiko.
Die Analyse von Admiral Schönbach war insbesondere zutreffend. Russland ist nicht an einem Stück Land in der Ostukraine interessiert. „U kraina“ kann mit „am Rand“ übersetzt werden. Auch für die
russische Politik ist das Land ein Randthema. Die Unterstützung Russlands für die Krim hat in der Ostukraine aber Erwartungen geweckt, auch die Menschen Donbass-Region vor der westukrainischen
Dominanz zu schützen. Hier will Russland lediglich keinen Gesichtsverlust.
Die Krise lässt sich nur mit einem vernünftigen Kompromiss lösen. Die Schönbach-Analyse ist dafür eine gute Grundlage. Die Krim wird nicht in den ukrainischen Staat zurückkehren. Der Westen
könnte sein Gesicht wahren, wenn die Volksabstimmung vom 16.03.2014 unter Aufsicht der OSZE wiederholt würde; dieses Ergebnis müsste von der Welt anerkannt werden. An dem aktuellen Zustand wird
das aber nichts ändern; weniger als 70 % Zustimmung ist nicht realistisch. Die Provinzen Donezk und Lugansk können zu einer „Autonomen Republik Donbass“ (Donezbecken) innerhalb des ukrainischen
Staates werden, wie die „Autonome Republik Krim“ von 1991 bis 2014. Die NATO müsste erklären, grundsätzlich keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Damit wäre auch ein Beitritt der Ukraine
ausgeschlossen. Die EU würde sich mit der Aufnahme eines so großen Landes mit einem so großen Rückstand bei der wirtschaftlichen Entwicklung sowieso übernehmen. Hier sollte Russland nicht auf
einer formellen Erklärung bestehen. Alle Boykott-Maßnahmen gegen die Krim und den Rest Russlands müssen aufgehoben werden.
In der Vergangenheit ist von russischem Boden - von der Zurückdrängung des Osmanischen Reiches und der Teilung Polens abgesehen - nie ein Krieg ausgegangen. Napoleon, Wilhelm II und Hitler waren
die Angreifer. Stalin hat nach 1945 Osteuropa nicht geräumt, damit die USA nicht nachrücken. Auch die Politik Putins ist nicht aggressiv. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten sich
längerfristig überlegen, wie sie „Frieden schaffen, ohne Waffen!“ Das geht nur, wenn Russland mit Respekt behandelt wird, wie es Admiral Schönbach vorgeschlagen hatte. Das friedliebende Land wird
dann eine sehr konstruktive Rolle spielen,
Eigentlich ist die NATO seit 1991 überflüssig. Nachdem Donald Trump das gesagt hatte, wurde er von der Rüstungslobby gründlich bearbeitet, und danach von den Europäern die Erhöhung ihrer
Rüstungsausgaben verlangt - mehr Profit für die Konzerne! Auch von Corona kennen wir den Mechanismus, wie die Pharmalobby aus einem einfachen Virus eine Marketingkampagne gemacht hat. Wie immer
zahlen am Ende die einfachen Bürger die Rechnung.