Was wollen die Reichsbürger?

von Werner Müller, 28.12.22


Reichsbürger dürfen nicht mit Nationalsozialisten gleichgesetzt werden. Viele von ihnen sind eher Monarchisten. Sie berufen sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR, das im Orientierungssatz 1 feststellte:
 

Es wird daran festgehalten (vgl zB BVerfG, 1956-08-17, 1 BvB 2/51, BVerfGE 5, 85 <126>), dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch die Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die Alliierten noch später untergegangen ist; es besitzt nach wie vor Rechtsfähigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation nicht handlungsfähig. Die BRD ist nicht „Rechtsnachfolger“ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat „Deutsches Reich“, - in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings „teilidentisch“.



Dem ist nicht zuzustimmen! Dieser Zustand mag bis 1949 so gewesen sein. Mit der Gründung von zwei deutschen Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches wurde dieses aber automatisch aufgelöst. Dass die BRD bis 1970 für sich seine Grenzen von 1937 beansprucht hat, ändert nichts daran. Markus Söder bezeichnete die Argumentation der Reichsbürger in der Tagesschau vom 13.11.20 als „völlig absurde Ideen“, die „eine ernsthafte Gefahr für den Staat …“ seien. Die Politik sollte nach fast 50 Jahren dann auch einräumen, dass das DDR-Fernsehen und sein Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler damals Recht hatten, als sie schon 1973 die Meinung von Markus Söder vertraten.

Aber natürlich steht es jedem Bürger frei, die Rückkehr zur Monarchie zu fordern, und diese Forderung mit der Verwendung der Flagge des Kaiserreichs (schwarz-weiß-rot) zu zeigen. Und natürlich darf man Karl-Eduard von Schnitzler und Markus Söder widersprechen und die Meinung des Bundesverfassungsgerichts verteidigen. Deshalb sollen auf dieser Website auch diese Meinungen nicht ausgegrenzt werden. Ihre Vertreter haben das Recht, diese Position darzulegen und man muss mit ihnen reden, und nicht über sie. Diese Website würde ihnen dafür eine Gelegenheit geben. Aktuell ist aber niemand dazu bereit, dieses Anliegen in der Öffentlichkeit zu vertreten. Es kann an dieser Stelle deshalb nur eine virtuelle Diskussion geführt werden.

Es trifft zu, dass die Ernennung von Friedrich Ebert zum Reichskanzler am 8. November 1918 verfassungswidrig war. Der „Kanzler“ des Kaiserreichs war der Leiter der Kanzlei des Kaisers, und nur der Kaiser hatte das Recht, den Kanzler zu ernennen oder zu entlassen. Unter Otto von Bismarck war diese Stellenbeschreibung natürlich ein extremes Understatement. Friedrich Ebert wurde allerdings nicht vom Kaiser ernannt, sondern vom letzten kaiserlichen Kanzler, Prinz Max von Baden. Zuvor hatten die USA, Großbritannien und Frankreich die Abdankung des Kaisers als Voraussetzung für Waffenstillstandsverhandlungen gefordert. Ebert hatte ultimativ verlangt, diese Forderung zu erfüllen und andernfalls mit dem Rückzug der SPD aus der Regierung gedroht. Es gab bereits die Matrosenaufstände in Kiel und Wilhelmshaven, und die SPD-Führung stand unter dem Druck ihrer Basis, sich der Revolution anzuschließen.

Kurz vor Ablauf des Ultimatums verbreitete Max von Baden eigenmächtig die Falschmeldung von der Abdankung des Kaisers, trat dann von seinem Amt zurück und übergab Friedrich Ebert die Amtsgeschäfte. Als letzte Amtshandlung wies der scheidende Kanzler die kaiserlichen Beamten und die Sicherheitskräfte an, die Anweisungen von Ebert auszuführen. Der Kaiser, der sich in Belgien aufhielt, verlangte von der Obersten Heeresleitung Truppen, die die verfassungswidrige Machtübernahme durch den SPD-Vorsitzende beenden sollten. Die verweigerte ihm aber den Gehorsam und so sah sich Wilhelm II gezwungen, in die Niederlande ins Exil zu gehen. Gleichzeitig rief Philipp Scheidemann, SPD-Minister unter Max von Baden, gegen den Willen von Friedrich Ebert die Republik aus. Danach entließ Ebert alle kaiserlichen Minister und bildete eine neue Regierung, ausschließlich aus Mitgliedern von SPD und USPD. Weil Ebert kein aber verfassungsmäßiger Kanzler war, konnte er auch keine verfassungsmäßige Regierung bilden.  

Formal betrachtet war der Kaiser also im Recht, aber die Oberste Heeresleitung hielt einen Waffenstillstand und eine vom alten Machtapparat abhängige „Revolutionsregierung“ für die bessere Alternative statt einer wirklichen Revolution der Arbeiter- und Soldatenräte, der sich die SPD nach ihrem Ultimatum hätte anschließen müssen. Ein Bürgerkrieg wäre die Folge gewesen. So aber konnte Philipp Scheidemann den Sieg einer Revolution verkünden, die noch gar nicht richtig begonnen hatte, und die die alten Kräfte an den Schlüsselpositionen der Macht belassen hat. Es war ein rechtswidriger Putsch, der eine echte Revolution verhindern sollte.

Auch die Übergabe des Präsidentenamts von Hindenburg an Hitler war nicht verfassungskonform. Der berief sich darauf, von Hindenburg auf dem Sterbebett zu seinem Nachfolger ernannt worden zu sein. Die Weimarer Reichsverfassung sah aber im Fall des Todes eines Reichspräsidenten vor, dass das Amt übergangsweise vom Vorsitzenden des Reichsgerichts übernommen werden sollte, der eine Präsidentenwahl zu organisieren hatte. Die von den Nazis abgehaltene Volksabstimmung, die Hitlers Amtsübernahme auf Lebenszeit bestätigte, konnte keine verfassungskonforme Präsidentenwahl ersetzen. Das Gleiche galt für die Übergabe des Präsidentenamtes an Karl Dönitz in Hitlers Testament. Die Regierung war aber noch legal, denn die Geschäfte des Kanzlers führte der seit 1932 im Amt befindliche Finanzminister als dienstältester Minister. Diese Vertretungsregelung ist auch in der Bundesregierung bei gleichzeitiger Verhinderung von Kanzler und Vizekanzler üblich. Die Anerkennung der deutschen Vollmachten für die Kapitulationserklärungen und die Vereinbarungen des Waffenstillstandes durch die Alliierten war deshalb nicht automatisch eine Anerkennung von Karl Dönitz als Reichspräsident.

Es trifft auch zu, dass die Potsdamer Konferenz vom rechtlichen Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 ausging, dass der Alliierte Kontrollrat die für das ganze Deutschland betreffenden Fragen zuständig war, und jede Besatzungsmacht die Regierungsgewalt in ihrer Zone eigenständig ausüben sollte. Diese Vereinbarung wurde aber von den Westmächten mit der einseitigen Währungsreform in den Westzonen faktisch aufgekündigt, denn die Währung betraf Deutschland als Ganzes. Anschließend beriefen die Westmächte deutsche Verfassungsrechtler zur Konferenz vom Herrenchiemsee ein, um nach ihren Vorgaben einen Verfassungsentwurf für einen westdeutschen Staat zu formulieren, den dann Delegierte der deutschen Landtage imn Parlamentarischen Rat beschließen sollten.  

Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits den Verfassungsentwurf des Nationalen Volkskongresses für eine Deutsche Demokratische Republik. Die KPD beantragte im Parlamentarischen Rat, diesen Entwurf statt den Vorschlag der Herrenchiemsee-Konferenz zu diskutieren und die ostdeutschen Landtage zur Entsendung ihrer Delegierten einzuladen. Nach der Verkündung des Grundgesetzes und der Konstituierung des Bundestags setzte die Sowjetische Militäradministration den Verfassungsentwurf des Nationalen Volkskongresses für ihre Zone in Kraft. Damit waren auf dem Territorium des Deutschen Reiches zwei neue Staaten entstanden, und der seit dem 09.05.1945 nicht mehr funktionsfähige alte Staat war damit automatisch auch formal aufgelöst. Spätere Initiativen der DDR-Regierung, dass beide Staaten über eine Vereinigung verhandeln sollten, wurden von der BRD ignoriert.

Die DDR wurde von der BRD aber nicht anerkannt. Stattdessen verlangte der Kanzler Adenauer die Rückgabe der DDR und von Ostpreußen, Pommern und Schlesien. Weil die BRD diese Gebiete aber zuvor nicht hatte, musste die Rechtskonstruktion vom Fortbestand des Deutschen Reiches erfunden werden. Das erst 1951 gebildete Bundesverfassungsgericht wurde so besetzt, dass es diese Rechtsauffassung bestätigte. Das BVerfG-Urteil vom 31.07.1973 mit der Aussage zum Fortbestand des Deutschen Reiches sollte der sozialliberalen Ostpolitik Grenzen setzen.

Während das Grundgesetz nicht per Volksabstimmung bestätigt wurde, gab es in der DDR am 06.04.1968 eine Volksabstimmung über eine neue sozialistische Verfassung. Das war das einzige Mal, dass in Deutschland eine Volksabstimmung über eine Verfassung abgehalten wurde. Damit war die Auflösung der DDR durch die Volkskammer illegal. Sie durfte die Verfassung ändern, aber nicht den Staat auflösen. Dafür hätte sie eine neue Volksabstimmung ansetzen müssen. Aber besteht die Deutsche Demokratische Republik deshalb fort?

Man muss feststellen, dass es in der Politik nicht um Recht geht, sondern um Macht. Die Eroberung und Kolonisierung Amerikas durch Spanien, Portugal, England, Frankreich und Holland war aus heutiger Sicht illegal, und die weitgehende Ausrottung der Ureinwohner war ein Völkermord. Trotzdem wird niemand ernsthaft die Vertreibung der europäisch-stämmigen Bewohner Amerikas aus ihrer Heimat fordern.

Die Unabhängigkeitserklärung der USA war nach englischen Recht illegal. Die Französische Revolution widersprach den Gesetzen des französischen Königreichs, und die Machtübernahme Napoleons denen der Republik. Die Oktoberrevolution war ebenso legal oder illegal alle anderen Revolutionen. Aber schon Lenin spottete einst über die Deutschen, dass selbst bei einer Revolution in Deutschland, bei der die Revolutionäre einen Bahnhof besetzen würden, sie sich erst am Schalter eine Bahnsteigkarte kaufen würden. Die Frage, ob eine revolutionäre Veränderung rechtmäßig ist, kann man wohl nur in Deutschland diskutieren. Man kann wohl zusammenfassen: erfolgreiche Revolutionen oder Eroberungen sind legal, erfolglose sind illegal!

Die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und des Grundgesetzes ist eine Realität. Das gilt auch für den Artikel 146: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Auch mehr als 32 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD ist dieser Anspruch noch immer nicht eingelöst. Das deutsche Volk kann nach Art 146 GG in freier Selbstbestimmung auch darüber entscheiden, ob es die Monarchie wiedereinführen will. Wahrscheinlich wird es dafür keine Mehrheit geben. Es kann aber auch die 16 Bundesländer auflösen und einen Zentralstaat errichten. Die Länder und der Föderalismus haben in keinem ihrer Zuständigkeitsgebiete (Bildung, Polizei, Justiz, Gesundheit) wirklich überzeugt. Sie waren vielmehr eine Versorgungseinrichtung für Parteimitglieder, für die es in 16 Landesregierungen und 16 Landtagen reichlich Posten zu verteilen gab. Hier ist nicht sicher, dass die Menschen den Föderalismus in einer Volksabstimmung wirklich bestätigen würden.

Bei den Reichsbürgern dürfte sich eine tiefe Enttäuschung über die Politik in eine Frustration verfestigt zu haben. Aber die „gute alte Zeit“ war nicht besser. Sie sollten ihre Kraft lieber in Initiativen zur Umsetzung des Art 146 GG lenken.