Splitter oder Balken im Auge

von Werner Müller, 16.12.2022
auf https://www.prof-mueller.net/


Eine Aussage der Innenministerin Nancy Faeser in einer Fragestunde im Bundestag ließ die Neuen Medien aufhorchen; im Mainstream wurde sie totgeschwiegen:

„Wir wollen insbesondere im Disziplinarrecht und wahrscheinlich auch im Beamtenrecht das insoweit ändern, dass beispielsweise, was mich schon seit langem rumtreibt, eine Möglichkeit zu schaffen, die Beweislast umzukehren. das heißt, wenn Tatsachen vorliegen, dass dann derjenige auch beweisen muss, dass es eben nicht so ist, anstelle dass der Staat immer nachweisen muss, sehr kompliziert, dass eben andere Gründe dafür vorliegen, dass er nicht verfassungstreu ist.“ (https://www.anti-spiegel.ru/2022/innenministerin-faeser-will-ein-grundprinzip-des-rechtsstaates-abschaffen/)



Im Rechtsstaat gilt das Grundprinzip der Unschuldsvermutung (dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten). Jeder Mensch gilt solange als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Die Beweislast, also die Schuld eines Beschuldigten nachzuweisen, ist die Aufgabe des Anklägers. Dieses Grundprinzip des Rechtsstaates wurde in Artikel 11 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (AEMR) von 1948 verankert:

„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist“ (https://www.ohchr.org/en/human-rights/universal-declaration/translations/german-deutsch?LangID=ger)



Die AEMR hat als Beschluss der Vollversammlung der Vereinten Nationen keine unmittelbare Rechtswirkung. Dagegen ist die Bundesrepublik Deutschland der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) förmlich beigetreten und hat sie ratifiziert. Weil sich die Präambel der EMRK ausdrücklich auf die AEMR bezieht, ist letztere mindestens für die Auslegung heranzuziehen. Die Unschuldsvermutung ist in Artikel 6 Absatz 2 EMRK rechtswirksam festgeschrieben:

 

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ (https://rm.coe.int/1680a6eaba)



Nach dem 4. Absatz der Präambel der EMRK, in dem die Unterzeichnerstaaten ihren tiefen Glauben an diese Grundfreiheiten bekräftigen, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden, ist die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 der EMRK keine bloße Verfahrensregel, sondern ein unveräußerliches Menschenrecht. Die Unveräußerlichkeit ergibt sich aus der Bezugnahme des ersten Absatzes der Präambel der EMRK auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO vom 10.12.1948, die mit den Worten beginnt: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, …“ Damit ist die AEMR mindestens eine Auslegungshilfe zur Anwendung der EMRK.

Und auch im Rahmen der Europäischen Union wird durch Artikel 48 Absatz 1 der EU-Grundrechtecharta, die mit dem Vertrag von Lissabon am 7. Dezember 2000 beschlossen wurde, garantiert:

„Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig“ (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:12010P/TXT)



Daneben sind auch noch Artikel 7 Abs. 1 EMR0K und Art. 11 Abs. 2 AEMR (Keine Strafe ohne Gesetz) zu berücksichtigen, die den gleichen Wortlaut haben:   

Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.

Diese Vorschrift wird durch Art 103 Abs. 2 GG

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.



ergänzt. Art. 7 EMRK und Art. 11 AEMR verlangen eine Strafandrohung „… nach innerstaatlichem oder internationalem Recht …“, Art. 13 GG verlangt dafür ein formelles Gesetz.

Die Menschenrechte sind nach Art. 25 GG allgemeine Regeln des Völkerrechts, weshalb die EMRK Teil des Bundesrechts ist und den Gesetzen vorgeht. Daraus ergibt sich, dass die Menschenrechte gegenüber den Grundrechten der Art. 1 bis 19 GG gleichwertig sind und einfachen Gesetzen vorgehen. Mindestens ist die EMRK aber in der Fassung des Ratifizierungsgesetzes als Bundesgesetz anzusehen, dass für Beamte der Länder nach Art. 31 GG den LDGs als Landesgesetz vorgeht.

Der Gesetzgeber hat das Beamtenverhältnis nicht als besonderen Arbeitsvertrag, sondern als öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis ausgestaltet. Er hat in den Disziplinargesetzen des Bundes und der Länder ein besonderes Strafrecht geschaffen. So spricht z.B. § 5 LDG-RLP von einer Geldbuße, einem Begriff aus dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG). Dieses besondere Strafrecht muss dann aber auch den Anforderungen des Art. 7 Abs. 1 EMRK, des Art. 11 Abs. 2 AEMR und des Art. 103 Abs. 2 GG genügen.

Eine Konkretisierung von Tat und Strafe fehlt im beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren des Bundes und aller Länder. Der aktuelle Strafrahmen ergibt sich höchstens aus dem Richterrecht, was aber schon mit Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar ist. Damit ist i.S.d. Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EMRK i.V.m. Art. 103 Abs. 2 GG dem Beamten keine Strafe wirksam per Gesetz angedroht worden, und die verhängte liegt dann begriffsnotwendig immer höher als die angedrohte Strafe. Das hat zur Folge, dass auf der Grundlage der Disziplinargesetze keinerlei Disziplinarstrafe verhängt werden darf. Ein Beamter darf nach Art. 103 GG nicht bestraft und nach Art. 7 EMRK nicht verurteilt werden.

Daraus folgt, dass es auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Normenklarheit mindestens eine Verordnungsermächtigung im Gesetz nach dem Muster der StVO geben müsste. Es müsste dann ein Katalog von hinreichend konkret formulierten Regelverstößen und einem dafür vorgesehenen Strafrahmen im Voraus formuliert werden, um den Anforderungen des Art. 7 EMRK zu genügen. Weil das nicht gegeben ist, ist das aktuelle Disziplinarrecht im Beamtenrecht verfassungswidrig und ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Auch die Bezugnahme auf hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 5 GG kann eine Menschenrechtsverletzung nicht rechtfertigen!  

Im Ergebnis ist das Disziplinarrecht aktuell nach der Logik des angelsächsischen Case-Law geregelt, das grundsätzlich Einzelfälle nach Gutdünken entscheidet und die Gerechtigkeit nur aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ableitet. Dafür wird nach Präzedenzfällen gesucht und gefragt, wie andere Gerichte in vergleichbaren Fällen entschieden haben. Das ist aber mit der Systematik des Römischen Rechts nicht vereinbar. Hier entscheiden die Gerichte auf der Basis von Vorgaben abstrakter Gesetze, die auf den Einzelfall angewendet werden. Für das Strafrecht hat das Römische Recht durch Art. 103 Abs. 2 GG Verfassungsrang. Aus der Verwendung des Verbes „bestrafen“ wird das Römische Recht für alle Sanktionen von missbilligtem Verhalten verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Deshalb ist aktuell im Disziplinarverfahren angewendete Angelsächsische Recht im verfassungswidrig.  

Die Ministerin hat zur Beweislastumkehr möglicherweise einen Rückzieher gemacht. Nach ihrer Aussage im Bundestag treibt sie die Problematik aber schön länger um. Es werden neue Initiativen zur Verschärfung zu befürchten sein.

Dieser Vorstoß sollte aber ein Anlass sein, die Rechtsstaatlichkeit des Disziplinarrechts insgesamt zu hinterfragen. Die deutsche Außenministerin reist als Missionarin im die Welt, um dort die Menschenrechte zu predigen, aber die Bundesregierung übersieht die Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land. In der Bibel steht in Matthäus 7, Vers 3:

„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“



Jeder Beamte, gegen den aktuell ein Disziplinarverfahren anhängig ist, sollte diese Argumentation aufgreifen und auf die Verfassungs- und Menschenrechtswidrigkeit des deutschen Disziplinarrechts hinweisen. Vielleicht findet sich ein Verwaltungsgericht, dass diese Frage dem BVerfG zur Entscheidung vorlegt.

Zum Umgang des Außenministeriums mit dem nicht-woken Art. 12 EMRK (Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter haben das Recht … eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.) wird auf https://reitschuster.de/post/wer-menschenrechte-wahrnehmen-will-kann-das-im-ausland-tun/, 26.06.2022 verwiesen. Mit den Menschenrechten im eigenen Lanmd nimmt es die Bundesregierung also nicht so genau. Ihr sollte man wohl die Bibel zur Lektüre empfehlen. Vor dem zitierten Vers 3 heißt es:

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.“


 

Zur Vertiefung in das Thema siehe auch:

https://www.anti-spiegel.ru/2022/innenministerin-faeser-will-ein-grundprinzip-des-rechtsstaates-abschaffen/
https://linkezeitung.de/2022/12/11/umkehr-der-beweislast-innenministerin-faeser-will-ein-grundprinzip-des-rechtsstaates-abschaffen/

https://reitschuster.de/post/die-rueckkehr-der-hexenverfolgung/

https://reitschuster.de/post/reichsbuerger-razzia-nancy-faeser-fordert-umkehr-der-beweislast/

 

https://theplattform.net/de/kanal/reitschuster-de/reichsburger-razzia-nancy-faeser-fordert-umkehr-der-beweislast

https://deutschlandkurier.de/2022/12/bei-extremismus-verdacht-faeser-plant-umkehr-der-beweislast-fuer-beamte/

https://journalistenwatch.com/2022/12/09/faesers-beweislastumkehr-die-rueckkehr-der-inquisition/

https://weltwoche.ch/daily/faesers-beweislast-umkehr-fuer-eine-kuendigung-bei-staatsangestellten-reicht-blosser-verdacht-auf-demokratie-feindlichkeit/

https://sicht-vom-hochblauen.de/innenministerin-faeser-will-disziplinarrecht-aendern-und-die-beweislast-umkehren/

https://de.detv.us/2022/12/09/innenministerin-faeser-will-disziplinarrecht-aendern-und-die-beweislast-umkehren-rt-de/

https://www.freiewelt.net/nachricht/faesers-beweislastumkehr-rechtsauslegung-wie-zur-zeit-der-hexenjagd-10091681/

https://www.extremnews.com/berichte/politik/aa4d18e5cde0fa5

https://www.pi-news.net/2022/12/achtung-reichelt-razzien-beweislastumkehr-deutschland-angstland/